
Der skandinavische Weg ins Handwerk
Durch handwerkliche Aufgaben kompetente Menschen bilden – das ist die Idee des Sløyd-Konzepts, das vor über 160 Jahren in Finnland entstand.
Wer schon einmal einen Glasbläser, eine Porzellanmalerin oder eine Stickerin bei der Arbeit beobachtet hat, weiss, wie viel Geduld und Ausdauer, wie viel fachliches Wissen und welche Präzision es braucht, wenn Menschen Ideen mit kundiger Hand in ein Material übersetzen.
Die Intelligenz der Hände, das aktive Schaffen mit den Händen und das haptische Begreifen, der direkte Kontakt mit echten Dingen – man muss kein Kulturpessimist ein, um zu beobachten, was sich gerade zwischen Social Media und AI, zwischen Doomscrolling und passivem Konsum zu verlieren droht. Müssen wir Geduld neu lernen? Achtsamkeitsworkshops haben jedenfalls Hochkonjunktur.
Durch handwerkliche Bildung zu kompetenten Individuen
Vielleicht würde es sich lohnen, einen Ansatz aus dem 19. Jahrhundert wieder zu entdecken. Der Begriff «sløyd» bedeutet wörtlich «Handarbeit» oder «Handwerk». Die Idee: Handwerk als Mittel zur Persönlichkeitsbildung. Erstmals formuliert hatte sie um 1865 ein finnischer Priester, Uno Cyanaeus (1810–1888). Entfaltet wurde sie einige Jahre später in Schweden, genauer auf Gut Nääs, einem Lehrerseminar bei Göteborg, wo der Pädagoge und Publizist Otto Aron Salomon (1849–1907) den Grundstein der internationalen Sløyd-Bewegung legte. Zunächst bezog sich das pädagogische Konzept auf die Arbeit mit Holz, wurde aber bald auch um Textil und Papier erweitert. Und entfaltete weltweite Wirkung: Die Schule zog Pädagoginnen und Pädagogen aus vielen Ländern an und bestand fast ein Jahrhundert lang.

Schüler bei der Holzarbeit, Schweden 1934.
Sløyd formt den Charakter
Salomons Konzept: Durch praktische Arbeit sollten Kinder Ausdauer, Konzentration und Verantwortungsgefühl entwickeln – Fähigkeiten, die über das blosse technische Können hinausgehen. Die Arbeit mit der Hand galt als Weg, den Charakter zu formen, moralisches Verhalten zu fördern und das Denken zu schärfen. Seit den 1870er-Jahren ist Sløyd in Schweden ein fester Bestandteil des Schulunterrichts, seit 1955 sogar Pflichtfach. Der Unterricht ist traditionell zweigeteilt: in «weiche Materialien» (Textil) und «harte Materialien» (Holz und Metall). Ziel des Lehrplans ist es, Schülerinnen und Schülern die Fähigkeit zu vermitteln, ihre Ideen handwerklich umzusetzen, Material und Werkzeuge reflektiert einzusetzen und den eigenen Gestaltungsprozess im Hinblick auf Ausdruck, Qualität und Nachhaltigkeit zu bewerten. Und zugleich zu ganzheitlich kompetenten Menschen heranzuwachsen. Salomon selbst bringt es in «The Theory of Educational Sløyd» (London, 1892) präzise auf den Punkt:
«Die Bildungsziele von Sløyd sind:
(1.) Die Freude und Liebe zur Arbeit im Allgemeinen zu wecken.
(2.) Respekt für harte, ehrliche körperliche Arbeit zu vermitteln.
(3.) Unabhängigkeit und Selbstständigkeit zu entwickeln.
(4.) Gewohnheiten wie Ordnung, Genauigkeit, Sauberkeit und Ordentlichkeit zu trainieren.
(5.) Das Auge und das Formgefühl zu schulen. Allgemeine Handfertigkeit zu vermitteln und den Tastsinn zu entwickeln.
(6.) An Aufmerksamkeit, Fleiß, Ausdauer und Geduld gewöhnen.
(7.) Die Entwicklung der körperlichen Kräfte fördern.
Die utilitaristischen Ziele sind —
(1.) Direkte Vermittlung von Geschicklichkeit im Umgang mit Werkzeugen.
(2.) Ausführung präziser Arbeit.»

Otto Aron Salomon (1849–1907), Begründer der Sløyd-Bewegung in Schweden.
Die pädagogische Methode von Salomon war sorgfältig durchdacht und systematisch aufgebaut: Jedes Projekt sollte an das vorherige anknüpfen und die Fähigkeiten der Kinder schrittweise erweitern. Dabei diente einfaches Papierfalten (übrigens ganz wie später im berühmten Bauhaus-Vorkurs) oft als Vorbereitung auf komplexere Tätigkeiten wie Nähen oder Holzbearbeitung. Ziel war es, Auge, Hand und Geist gleichzeitig zu schulen – die Beobachtung zu verfeinern, die Motorik zu stärken und ein Gefühl für Proportionen und Präzision zu entwickeln.
Weltweite Verbreitung
Ganz ähnliche Gedanken entwickelte nahezu zeitgleich der deutsche Pädagoge Friedrich Fröbel, der «Erfinder» des Kindergartens, dessen Arbeit ebenfalls den Wert schöpferischer Tätigkeit betonte. Sløyd verbreitete sich denn auch rasch über Schweden hinaus. Die aus Finnland stammende Erziehungswissenschaftlerin Meri Toppelius führte das System Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten ein. Besonders einflussreich wurden dort die Sløyd Teacher Training School von Gustaf Larsson in Boston und die Baron de Hirsch Trade School in New York.

Holzlöffel schnitzen – eine typische Sløyd-Aufgabe, die in den vergangenen Jahren neu entdeckt und zum weltweiten (Instagram-)Trend wurde.
Sløyd heute
Bis heute hat Sløyd in Skandinavien einen festen Platz im Bildungswesen: In Schweden, Dänemark und Norwegen ist es weiterhin Pflichtfach – mit unterschiedlichen Gewichtungen auf Holz, Metall und Textil. In Island bildet das Prinzip sogar die Grundlage für den gesamten Lehrplan in Design und Handwerk. Und auch weltweit zeigen jüngere Initiativen, dass das Konzept nicht an Relevanz verloren hat. 2019 wurde in Boulder County, Colorado, die Sløyd Experience begründet, eine Organisation mit dem Ziel, durch Woodworking den Charakter junger Menschen zu stärken. Vermittelt werden dabei Werte wie Selbstständigkeit, Konzentration, Ausdauer, Ordnungssinn und die Wertschätzung von Arbeit. Damit knüpft auch die Sløyd Experience direkt an Salomons ursprüngliche Idee an, Handwerk nicht allein technisch, sondern als ganzheitliche Lebensschule zu verstehen.